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modus - kunst am bau
(2006)

Der Krankheit einen Raum -
Werner Gassers Arbeit im Sprengel für Gesundheit und Soziales Naturns

Kommt die Rede auf Platz und Funktion der Künste im Bereich medizinischer Arbeit, gerät zumeist deren den Heilungsprozess unterstützende Dimension in den Blick: Kunst-Therapie ist das Stichwort, unter dem etwa die Wirkung bestimmter Farbwerte für das Wohlbefinden diskutiert oder die wohltätigen Effekte plastischen Gestaltens betont wird. Kaum herausgestellt wird jedoch eine andere Möglichkeit von Kunst: die, der Krankheit einen Raum zu geben. - Und gerade so die Voraussetzungen für einen bewussten Heilungsprozess zu schaffen, dessen Verlauf und erhofftes Gelingen nicht mehr in ihrer Hand liegt.

Diverse Raumsituationen wurden in den letzten Jahren auf dem Weg zu einem kulturtheoretischen Raumdenken diskutiert: Ein Raum der Aufführung im performativen Vollzug der Künste etwa, oder ein Raum der Ausstellung in der kuratorischen Arbeit und ein Raum der Reise ebenso wie der Lüste insbesondere dann, wenn die ästhetische Produktivität als Teil einer umfassenderen Lebenskunst in den Blick geriet - aber ein Raum der Krankheit, der anders wäre als die Ordnung einer von Foucault in Geburt der Klinik beschriebenen sozialen Segregation, fand kaum Aufmerksamkeit und wenn, dann im Zeichen des Schmerzes als Gegenstück zu einem Körper in ekstatischer Entzückung.

blatt, schaltplan, libelle

Vernetzungsstrukturen: Adernetz Ahornblatt, technischer Schaltplan, Libellenflügel

Sicher, Thomas Manns Schilderung des Sanatoriums im Zauberberg könnten ebenso in den Sinn geraten wie Paul Valérys Monsieur Teste oder André Gides magrebinischer Gartenraum, in den sich der Protagonist von L´Immoraliste zurückzieht. Und auch wenn in den bildenden Künsten, gerade in der Auseinandersetzung mit HIV, seit den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts, mit dem ekstatischen auch der kranke Körper wieder zu einem Thema geworden ist, steht das Nachdenken über einen Raum der Krankheit doch noch am Anfang.

Gerade zu diesem leistet Gassers Arbeit im Sprengel für Gesundheit und Soziales Naturns einen Beitrag; wie auch, so wollen wir zumindest glauben, zum Wohlbefinden derer, für die dieser Bau konzipiert wurde: die Patienten, soweit sie auf das Angebot der Künste sich einzulassen bereit und in der Lage sind. - Für Menschen, die vor der Aufgabe stehen, ihren mehr oder minder großen körperlichen Gebrechen einen genau beschriebenen Ort im ganzen ihres Lebens einzuräumen, ihre eigene Position im Verhältnis zu den Dimensionen von Zeit und Raum neu zu bestimmen, die aus den Fugen des Gewohnten geraten sein mag durch die konstatierte und - nicht zu letzt auch durch einen eigenen mentalen Akt - zu behandelnde Krankheit.
Denn wird nicht die Gewichtung der Prioritäten des sozialen Lebens eine andere mit Blick auf die ersten und letzten Dinge, die durch einen nicht vorteilhaften medizinischen Befund anders als ins Bewusstsein treten mögen? Wird das Verhältnis zur Zeit nicht ein anderes, wenn sie als ver- rinnende, angehaltene oder beschleunigte Lebenszeit gemessen wird und ihr Maßstab nicht mehr Tagesablauf oder umtriebige Geschäftigkeit, sondern die (Natur-) Geschichte ist, in deren Erzählung die eigene Biografie eingeschrieben wird als Versuch, Zeit zu gewinnen? - Eine Haltung gegenüber dem Leben einzunehmen, die sich aus der Meditation der Ewigkeit ebenso gewinnen lässt wie aus einem Eingedenken der Endlichkeit des Lebens als eines Zeitschnitts in dieser. Und wird nicht zu letzt auch der Bezug zum Raum ein anderer, wenn die Funktionsfähigkeit des eigenen Körpers befragt wird, durch den das Lebensfeld erst gebildet wird?

Ein in sozialen Zusammenhängen stehendes Wesen ist der Mensch gerade auch durch seine Raumbezüge, in der Art und Weise, wie er sich als Subjekt im und zum Raum verhält; gleichzeitig richtet er diese räumliche Ordnung als eine nicht statisch vorgegebene, sondern an seine Aktionen und Perzeptionen gebundene, erst ein: in dem Maß, in dem er sich Raum als seinen Ort aneignet, als eine Architektur erzeugt, die an die erfahrende Bewegung seines Körpers gebunden ist. Der Mensch ist Mensch nicht nur darin, dass er über Sprache verfügt, wie die Anthropologie des 18. Jahrhunderts als distinktes Merkmal zu wissen glaubte, nicht nur darin, dass er sich eine Geschichte schreibt, die nicht (nur) Heils- oder Naturgeschichte ist, sondern auch darin, dass er ein Raum bildendes und besitzendes Wesen ist. Und es ist gerade diese Dimension, die hervortritt, wird eine Krankheit diagnostiziert, die den Menschen zwingt, sich auf sich selbst zu besinnen, zu zentrieren und zugleich - denn was ist schon dieses »selbst« - in Hinwendung zum Anderen und zu Anderen zu bleiben: der Krankheit einen Raum zu geben, der eben nicht der Raum des anatomischen Theaters aus den Anfängen der Medizin ist, nicht der Krankensaal des Hospices aus den frühen Tagen der Pflege, wie er etwa im französischen Beaunes besichtigt werden kann, und auch nicht das überfüllte Mehrbettzimmer der Großkliniken unserer Tage, in denen der Patient nach Maßgabe von Fallpauschalen immer kostenintensiverer Gesundheitssysteme abgerechnet wird. - Stellen sich die Künste dieser Aufgabe, indem sie etwa in der Gestaltung eines Gesundheitssprengels intervenieren, zielen sie nicht mehr auf die Herstellung von Werken, denen ein Betrachter gegenüber treten mag, sondern auf die Ausgestaltung eines Erfahrungsraums, der erst durch die Aktivität derer, die sich in ihm Anteil nehmend bewewgen, Gestalt gewinnt. Der Raum der Krankheit ist zuallererst ein mentaler Raum, der allerdings in einer verräumlichenden Praxis im Wechselspiel mit den umgebenden, gebauten und sozialen Räumen erzeugt und beständig modifiziert wird. Die Künste können als eine Schule ästhetischer Bildung und Einbildungskraft hierzu ebenso Techniken an die Hand geben, wie sie Räume nach ihren Maßgaben zu transformieren in der Lage sind, damit sie zu Orten werden, in denen jeder Mensch, der mit seinem Mensch-Sein in der Befragung seines Körpers konfrontiert wird, seiner Krankheit einen Raum zu geben in der Lage ist.

Farbscalen für Trennwände

Daher wäre die Ausgangssituation von Gassers Arbeit im Gesundheitssprengel Naturns unvollständig beschrieben, wenn unsere Aufmerksamkeit mit dem Raum nicht auch der Person des Kranken gelten würde, dem die Verfügbarkeit seines köperlich-geistigen Potentials ja auch durch die Grenze bestimmt wird, innerhalb deren die hier skizzierte Aufmerksamkeitsleistung alleine möglich ist. Wir mögen uns den Patienten, von den guten Wünschen der seinen begleitet, in einem Raum der Ruhe und der Kontemplation vorstellen: ein Mensch konzentriert sich auf sich selbst, in einem Gleichgewicht von Abgeschiedenheit, in der die vita activa mit ihren Verpflichtungen ferngehalten wird, und Involviertheit, die ihm eine Aktivität des Lebendigen erhält, deren Produktivität nun jedoch einzig auf die Selbstsorge gerichtet ist. Wir mögen ihn uns lesend vorstellend oder betrachtend, schreibend oder zeichnend, zwischen Aktivität und Passivität, Er- und Entmächtigung schwankend, stets jedoch in seiner exzentrischen Stellung, in einem anderen zeit-räumlichen Gefüge, das es sich bewusst zu machen gilt, um in einem souveränen Akt, der Krankheit einen ihr angemessenen Raum zugestehen und dessen therapeutisches Potential aufrufen zu können.

Dass Gasser sich als bildender Künstler die Frage nach dem Verhältnis von Zeit, Raum und Mensch stellt, die gerade in der Arbeit in einem Gesundheitssprengel virulent wird, und eben nicht nur den Architekten angeht, macht ein Zitat deutlich, das er aus einem Kommentar Le Corbusiers anlässlich der Eröffnung des ospedale di Venezia anführt:

»Ein Krankenhaus muß immer ein Haus des Lebens sein, nicht eine Gesundheitsmaschine. Der Schlüssel ist und bleibt der Mensch.«

- Nehmen wir dieses Zitat das Gasser in seinen Papieren zum Naturns-Projekt vermerkt, zunächst als Maßstab, den er seiner eigenen Arbeit, aber vielleicht mehr noch den medizinischen Diensten aufstellt, die in denen von ihm mit den Mitteln der Künste umgestalteten Räumen tätig sind. - Wobei der Verweis auf den Modernismus Le Corbusiers zeigt, dass hier nicht naturphilosophische Naivität aufgerufen wird, sondern das humanistische Potential einer Moderne, die den Anspruch nicht aufgibt, der Frage nach dem Menschen angemessene Räume zu schaffen, in denen Leben - gerade vielleicht auch angesichts dessen konstitutiver Endlichkeit - gestaltet werden kann. Letztlich wird so das Thema, mit dem die Patienten konfrontiert sind - die Krankheit als Teil menschlichen Lebens - von einer sei es metaphysisch oder instrumentell gestellten Frage in eine räumliche gewendet. - Gasser zitiert in seinen Papieren Franz Xaver Baier, dessen Raumphilosophie seine Konzeptarbeit für Naturns insbesondere anregte:

»Unsere Existenz entspricht einem ganzen Bauwerk von Räumen. Die größeren Räume geben uns Weite, die kleineren zentrieren und kontrahieren zu einem Hier.«

Der Mensch im Zentrum ebenso komplexer wie dynamischer Raumgefüge, die zwischen Weite und Geborgenheit, An- und Abwesenheit oszillieren; auf diese Formel kann die Arbeit Gassers im Sprengel Naturns gebracht werden. Sie geht von einer Reflexion über den Charakter des Raums aus, der nicht von den Körpern der Menschen, die sich in ihm bewegen, getrennt werden kann: Vielmehr wird der menschliche Körper, der im Krankenhaus zum Objekt der Sorge wird, selbst als ein Raum aufgefasst: Gasser interessiert sich für diese Konstellation von Raumkörper, der sich als ein komplexes Gebilde aus der Überschneidung ver- schiedener Raumarten und Dynamiken ergibt, und Körperraum. Dabei gilt ihm sowohl die Architektur wie der Körper als eine komplexe Anordnung von Räumen und Dynamiken - der Mensch nicht als ein Betrachter, der außerhalb und vor den Dingen steht, sondern als konstitutiv dem Raum zugehörig, einem Raum, den er in seine Bewegungen und Perzeptionen erst hervorbringt, die im Status der Krankheit spezifisch gerichtet sind: auf eine Spannung instrumenteller Vernunft - in der Variante der medizinischen Sorge, denen der Patient sich anvertraut - und Reflexion über die fortwährende Verankerung des Körpers im scheinbar Natürlichen, die im Status der Krankheit zulasten des Intellegiblen - und sei es als Fiktion - stärker hervortritt: der Natur des Menschen, die im Raum der Krankheit zugleich herausgestellt und dementiert wird: ist der Körper in ihm doch ebenso als Artefakt wie als endlicher, im Wechselspiel von Werden und Vergehen stehender, spürbar: beide Dimensionen bestimmen die Gestaltung des Raums als mentale »Landschaft«, wie sie Gasser in seiner Arbeit vorantreibt. In ihr wird Raum nicht als Bühne des menschlichen Körpers aufgefasst, nicht als statischer und als dem menschlichen Leben vorausgesetzt. Raum ist hier nicht abgeschlossen oder Abschließung, sondern offen und Öffnung.

Besonderes Augenmerk legt Gasser auf die Gestaltung der Korridore und Wartebereiche als den verbindenden Zonen zwischen den Behandlungs- räumen und der Außenwelt, es sind zum einen Areale des Übergangs in denen der auf Behandlung wartende Mensch in ein neues Verhältnis zu Zeit und Raum rückt, verschieben sich doch die Maßstäbe, zum anderen sind es Orte der Begegnung - mit anderen, aber, wohl nicht zuletzt, auch mit sich selbst - und so greift Gasser den Gedanke Baiers auf, dass ein Zwischenraum ein »Ursprungsort neuer Wirklichkeit"« sein könne: da er Anfang sowohl wie auch Ergebnis einer Begegnung sein könne. Die Räume, die Gasser gestaltet, sind Räume des Rückzugs und der Konsultation, Schnittflächen, die geprägt werden durch eine Spannung von zentrierender Kontemplation und nach außen gerichteter Aufmerksamkeit, von Rückzug und Hinwendung.

stoffbezug

Stoffbezug der Sitzgelegenheiten

Reduktion von Komplexität und ausgehaltene Spannungsverhältnisse bestimmen die Arbeit von Gasser im Gesundheitssprengel Naturns ebenso wie Abstraktion und Konkretion - zu beobachten etwa in seiner Suche nach angemessenen (Raum-)Bildern - oder ein Wechselspiel von immaterialität und Materialität bei seiner Gestaltung der Bildräume: sei es mit Blick auf die Rolle von Licht bei der Gestaltung der Textbänder, der Transluzidität der Glaswände und auch bei Farb- bzw. Materialwahl für die Sitzgelegenheit im Wartebereich.

wald

Der Schatten des Gartens wandert hinter mir.

Der Komplexität des klinischen Betriebs ebenso wie der des Körpers, dem dessen Bemühungen gelten, begegnet Gasser mit einem Prinzip: Einfachheit der visuellen Ausdrucksmittel. Der scheinbaren Undurchdringlichkeit der Fachdiskurse, die den Körper des Patienten zum blosen Objekt zu machen drohen und der Isolation des Einzelnen, etwa in seinen Befürchtungen, antwortet ein bewusstes Setzen auf Austauschsprozesse, von dem wir hoffen wollen, dass es den sich als Patient souverän begreifenden Menschen ermutigt. Und der Dynamik als Prinzip des Lebens, die auch gerade die auf den (nicht mehr) vitalen Körper verweisenden Raumsituationen des Gesundheitssprengels aufrufen, wird eine Möglichkeit zur versammelnden Ruhigstellung zur Seite gestellt, zu dem die eingeführten Texte und Bilder Anlass bieten, indem sie Visualität, Textualität und Imagination als anthropologische Ressourcen des Menschen zu mobilisieren helfen. Gasser gestaltet die Räume, in dem er die trennenden Wände aufhebt und durch Visualisierung von ebenso komplexen wie einfachen Systemen ersetzt: statt durch die vorgesehenen Mauern werden die Behandlungsräume nun durch mattiertes Glas von den Wartezonen abgegrenzt, auf dem die Aderung eines Libellenflügels, eines Ahornblatts oder die graphische Struktur eines technischen Schaltplans appliziert ist. Ein weiteres System, das Gasser in die Architektur einführt ist die Schrift: so wird je nach Witterung der Schriftzug

» Z i m m e r l i n d e «

auf einem Vorhang lesbar - als Schatten einer auf einem Außenfenster angebrachten Buchstabenfolge. Auf den Glaswänden der Gänge, ebenfalls auf die Wirkung des Lichts bezogen, sind in selbst reflektierender Folie verschiedene Schriftzüge zu lesen, die ebenfalls auf die Natur und auf die sich verschiebenden Zeit-Raum-Bezüge des Menschen angesichts der Krankheit bezogen sind:

»Der Schatten des Gartens wandert hinter mir«

kann man etwa im vorbeigehen lesen, wenn man das Gebäude betritt oder:

»Ein Zitronenbaum, seit zwei Tagen erblüht«

wenn man im Ambulatorium für Blutentnahme wartet. In der Reha-Abteilung ist der auf einem Spiegel, also auf dem eigenen, in den Blick genommenen Körper applizierte Text, programmatisch zu lesen:

»Wie sonst kriegt man im Leben irgendwas hin? Man spielt mit den Dingen«

schreibt Gasser und verweist mit dem Modus des Spiels nicht nur auf eine seine künstlerische Arbeit mitbestimmende Dimension, sondern auf eine Lebenshaltung. Und möchte man an deren Wirksamkeit, im Bündnis mit kurativer Zuwendung der Menschen, die in Gedanken uns in den Raum der Krankheit begleiten, nicht umso stärker glauben, je ernster die Dinge des Lebens - an seinen Grenzen - uns begegnen?
Franck Hofmann

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