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afae
(2016)

00A gallery Meran
kuratiert von Camilla Martinelli


Die Meraner 00A Gallery führt ihr Programm aus Einzelausstellungen zeitgenössischer Südtiroler Fotografen fort und zeigt in diesem Rahmen die jüngsten Arbeiten von Werner Gasser. Der 1969 in Meran geborene Künstler lebt und arbeitetin Berlin und Meran. Mit dem Titel „Afae“ präsentiert er eine Serie neuer Fotoarbeiten, die im Sommer 2016 entstanden sind. Der lateinische Terminus „Afae“ bedeutet Staub und bezieht sich auf die in deutsch umgangssprachlich als „verstaubt“ bezeichnete Erfahrung der verlebten Zeit, welche in Gassers Fotos ersichtlich und beinahe greifbar wird. Die Fotos wurden in einem historischen Meraner Herrenhaus, der Villa Freischütz aufgenommen, die heute Sitz der Stiftung „Navarini-Ugarte“ ist.

Im April 2016 lud die Stiftung den Künstler ein, die 1909 vom Kunstsammler Franz Fromm (1854- 1941) errichtete Jugendstilvilla in Obermais zu besuchen, der zur Blütezeit der Kurstadt Meran dort seinen Wohnsitz hatte. Nach dem Willen der letzten Erbin Fromms, seiner Enkelin Rosamaria Navarini (1926-2013), Tochter des Generals Enea Navarini, wird das Gebäude in ein Hausmuseum umgewandelt, das 2018 eröffnet. Seit drei Jahren wird an der Neuordnung und Katalogisierung aller verwahrten Objekte gearbeitet, darunter Möbel, Bilder, Fotografien und verschiedenste skurrile Sammlungen und Objekte. Kaum hatte er die Villa betreten, war Werner Gassers Interesse geweckt. Den Künstler faszinierte vor allem die eigentümliche Aura der Vergangenheit dieses Ortes: die Räume voller achtsam und sorgfältig gesammelter Gegenstände als stumme Zeugen einer vergangenen Zeit; aber auch das Geheimnis und die transitorische Situation der Villa Freischütz hin zu einer musealen Struktur, im Sinne eines „ruhigen Chaos“, welches darauf wartet, eine unvermeidbare „andere“ Ordnung zu finden. Inmitten von Kartons, Körben und gestapelten Dingen hat Werner Gasser die Innenräume als work in progress festgehalten, in einer prekären, jedoch nicht nach dem Willen der Besitzer geordneten Zustand – eine Atmosphäre, die zwischen der Vergangenheit eines bewohnten Hauses und einer Zukunft als Hausmuseum changiert. Das neugierige Auge des Fotografen entdeckt die Intimität desvergangenen Lebens, erfreut sich an der Opulenz und Extravaganz der Sammlung, nimmt sämtliche Details wahr, jedoch ohne dokumentarischen Anspruch. Die zufällig wirkende Anordnung, der vage Anschein des Verlassenen und der Verfall, den wir in diesen Bildkompositionen wahrnehmen, kulminieren in der Darstellung gezielter Objekte, die im Vordergrund des Bildes unsere Neugierde wecken. Sie sind gleichsam die poetischen, bedeutungstragenden Elemente der künstlerischen Arbeit von Werner Gasser. Der Raum ist nicht die Realität an sich, sondern die Erfahrung des Menschen, schrieb Pierre Francastel. Die gewagten Perspektiven, Ausschnitte und schrägen Ansichten präsentieren nicht eine Realität, sondern den Geschmack des Schöpfers. Sie lassen uns bloß teil-haben, indem sie uns gezielt Ausschnitte, nicht aber einen Überblickbieten. Anstelle von Panoramabildern treten Nahaufnahmen, die uns den spezifischen Blick des Künstlers zeigen. Der Künstler nähert sich den Objekten mit Respekt, er studiert den Zugang der Perspektive, die ihm erlaubt Falten, Nuancen, emotionale Tonalitäten festzuhalten. Angenommen, die Fotografie stünde im selben Verhältnis zum Kino wie die Poesie zur Prosa, dann würde die Arbeit Gassers exakt dieser künstlerischen Gleichung entsprechen. Seine Fotografie ist intim und unmittelbar und dennoch eine durch das aufmerksame Studium formalisierte – die Phantasie ansprechende – Verdichtung. Gassers Fotoarbeit versetzt uns ins staunendes Erleben und erlaubt uns die Dinge so zu sehen, als ob wir beim Fotografieren neben ihm stehen würden, als ob wir zusammen mit ihm den emotionalen Moment des Beobachtens erleben würden. Ähnlich dem Dichter, der uns mit seiner Poesie zu bewegen vermag, versetzt uns der Künstler in ein Gefühl des Mittendrin seins, des Mit-Gefühls: so erscheinen uns die abgebildeten Dinge in ihrer durch uns wahrgenommenen Immanenz zu neuem Leben zu erwachen. Die unverwechselbare Ästhetik Werner Gassers, mithin seine große bildgestalterische Sensibilität kommt durch den stilistischen Einsatz gedämpfter Farben zur Geltung. So dokumentieren seine Fotografien, ohne dokumentarisch zu sein, einen nur mehr vorstellbaren häuslichen Kontext und schenken uns unmittelbare Bruchstücke einer privaten Erzählung. Die Reproduktion der alltäglichen Umgebung wird zur poetischen Handlung, indem sie ihr Augenmerk auf jene emotionale Ebenen legt, die den banalsten, uns täglich umgebenden Dingen anhaftet. Aus diesem Blickwinkel heraus betrachtet, erinnern seine Bilder an große VertreterInnender zeitgenössischen Fotografie wie Nan Goldin, Wolfgang Tillmans, Sam Taylor Wood, Peter Fischli und David Weiss. Seine Arbeiten drücken Akzeptanz und Aufnahme aus. Für Nan Goldin ist ein Foto zu machen wie eine Berührung, ein Streicheln, der Wunsch die Wahrheit zu erfassen und zu akzeptieren.

Die Fotoserie aus der "Villa Freischütz" tangiert eine unbekannte Vergangenheit, berührt wie mit Fingern, die selbst wieder Spuren hinterlassen, den Staub auf den Tischen und Stühlen, Briefen, Polstern, Kartons und Verpackungsmaterialien. Das Wort Afae ist selbst ein antikes, verstaubtes Wort, dass ich über die Zeit legt; ein Wort, um Gegebenheiten zuzudecken, bevor sie aus der Vergessenheit geholt und Geschichte werden.


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